Wie kommt die Moral in den Menschen? Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung

Schreibe einen Kommentar
Psychologie

Wie entwickeln sich unsere Vorstellungen von „Richtig“ und „Falsch“, von „Gut“ und „Böse“? Kommen wir mit einem „Moralsinn“ auf die Welt? Oder sind wir ethisch gesehen unbeschriebene Blätter, die nur darauf warten, von den Erwachsenen ausgefüllt zu werden?

Vermutlich ist beides falsch. Wir werden nicht mit einem Sinn für das Moralische geboren, aber wir sind auch keine leeren Wachstafeln. Einige wichtige Voraussetzungen für die Unterscheidung von Gut und Böse beherrschen wir schon sehr früh. Bevor wir überhaupt sprechen können, unterscheiden wir Lebewesen von toter Materie. Wir sehen den Unterschied zwischen „Bewegen“ und „Bewegt werden“ – eine wichtige Vorbedingung, um Täter von Opfern zu unterscheiden. Bereits mit neun Monaten bevorzugen wir nicht nur diejenigen, die unsere Vorlieben teilen, sondern auch diejenigen, die uns in unseren Abneigungen ähnlich sind.

Nach Jean Piaget ist unsere Welt in den ersten Lebensjahren egozentrisch: Wir sind ihr Mittelpunkt und wir sehen sie noch nicht mit den Augen der anderen. Moralisch gesehen hat dies auch Vorteile: Wir können noch nicht lügen! Wer einem Dreijährigen bei den ersten Täuschungsversuchen zuschaut, versteht, dass die kindliche Unschuld auf kognitivem Unvermögen beruht. Erst wenn Kinder verstehen, was andere denken und wünschen, können sie erfolgreich täuschen. Aber nicht nur die Lüge, auch die Wahrheit funktioniert nicht ohne den Verstand.

Wie entwickeln sich unsere Vorstellungen von Moral im Laufe unseres Lebens? Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg hat diese Entwicklung in Stufen eingeteilt.

Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung

1. Lohn und Strafe

Woher wissen wir überhaupt, was richtig und falsch, was gut und böse ist? Da uns dies Wissen nicht in die Wiege gelegt wurde, erfahren wir es von den Älteren. Aber was für eine Art von Wissen vermitteln die Älteren uns? Vieles bezieht sich auf konkrete Situationen: Das darfst du nicht! Dies musst du so machen! Warum? Weil es nicht erlaubt ist. Weil es böse ist. Weil du dem anderen nicht wehtun sollst. Weil er dann traurig ist. Weil er dann nicht mehr mit dir spielen will.

Aus den elterlichen Ge- und Verboten destillieren wir als Kinder die moralische Regel: Was verboten ist, wird bestraft. Was bestraft wird, ist böse! Was belohnt wird, ist gut! Auf die Konsequenzen kommt es an, nicht auf die Intentionen.

2. Zweckdenken

Aber wir entwickeln uns schnell weiter. Wir fangen an zu verstehen, wie die Anderen denken, welche Wünsche und Ziele sie haben. Wir lernen, dass wir gewinnen, wenn wir schneller, cleverer oder tüchtiger sind. Aber auch, dass wir verlieren, wenn die Konkurrenz besser ist! Wenn wir schneller sind, gehört der Preis uns – zu Recht.

Gut ist, was erfolgreich ist. Wenn die Älteren die Kleinen vom Fußballplatz vertreiben, dann machen sie es, weil sie es können. Wenn die Kleinen ihr Spielfeld mit Hilfe des Platzwartes zurück erobern, dann ist auch dies okay, weil es erfolgreich war. Was richtig ist, steht nicht am Anfang fest, sondern erst am Ende. Wenn die Älteren die Kleinen rachsüchtig verprügeln, wendet sich das Blatt ja wieder. Am besten wir rechnen mit allem und bleiben wachsam!

3. Übereinstimmung mit anderen

Im Jugendalter werden wir konventionell – unsere Moral orientiert sich an sozialen Normen. Wir möchten so sein wie die anderen. Richtig ist, was die Clique denkt. Richtig ist, was die Familie denkt. Und hoffentlich denken alle in die gleiche Richtung. Falls nicht, müssen wir Familie und Freunde auseinander halten. Die Freunde helfen uns, zu uns selbst zu finden, uns von den Eltern zu lösen, erwachsen zu werden.

Die Normen der Gruppe werden zu den eigenen. Die Sicherheit der Gruppe hat allerdings auch ihren Preis: Es fällt dem einzelnen schwer, Ungerechtigkeiten zu erkennen, die von der Gruppe getragen werden. Dies würde einen von der Gruppe unabhängigen Standpunkt erfordern, der auf dieser Stufe noch nicht erreicht ist.

Die Angst vieler Eltern, ihr Kind könnte als Jugendlicher in „schlechte Gesellschaft“ geraten, zeigt, dass die Gesellschaft diesen Gruppendruck, dem gerade Jugendliche unterliegen, gut kennt. Dabei werden die realen Gefahren allerdings häufig überschätzt und die notwendigen Entwicklungschancen unterschätzt – aber das ist ein anderes Thema. So bizarr und „unkonventionell“ das Aussehen vieler Jugendlicher aus erwachsener Sicht auch erscheinen mag, so konventionell ist im Grunde ihr Denken: Richtig ist, was die Clique für richtig hält.

4. Recht und Ordnung

Die Moral der Gruppe stößt in pluralistischen Gesellschaften schnell an Grenzen – was ist richtig, wenn für jede unserer Rollen andere Regeln gelten? Wer Werte über die Grenzen von Gruppen hinweg managen möchte, braucht eine übergeordnete Perspektive. Ganz einfach ist dieser Schritt nicht – Helmut Kohl verweigerte ihn mit dem Hinweis, dass man sein Ehrenwort nicht breche. Die gesellschaftliche Perspektive stellt die Moral auf die Grundlage von Recht, Gesetz und Pflicht.

Stellen wir uns das typische Szenario eines Western vor:

Ein gottverlassener Ort wird von den Männern eines reichen Ranchers terrorisiert. Eines Tages taucht ein unbekannter Revolverheld auf, den die bedrängten Farmer um Hilfe bitten. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Rancher stellt sich heraus, dass beide sich von früher kennen. Hält sich unser Revolverheld eingedenk alter Freundschaft aus der Sache raus oder stellt er sich auf die Seite der Farmer, besiegt den Rancher und sorgt für die Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“?

Westernkenner wissen, wie die Sache weitergeht: Nach einem blutigen Showdown mit unzähligen Toten siegt das Recht.

So sehr uns die eigene Familie, Freunde und Kollegen auch am Herzen liegen mögen, unsere moralischen Entscheidungen sollen jetzt den Ansprüchen der Allgemeinheit standhalten. Den Freund also doch verraten? Recht und Gesetz machen unsere Moral nicht unbedingt freundlich und liebenswert, sondern manchmal auch kalt und herzlos.

5. Postkonventionelle Moral

Die Orientierung an der sozialen Norm, am Gesetz oder der Pflicht kann natürlich auch falsch sein. Die jüngere deutsche Geschichte hat hierzu viele Beispiele parat, von den Unrechtsurteilen der Nazizeit bis zu den DDR-Belobigungen für „Mauerschützen“. Können wir eine dem Gesetz übergeordnete Perspektive einnehmen, mit der wir erkennen, wann die Anwendung von Recht zu Unrecht führt? Diese Fähigkeit erwarten wir von unseren Verfassungsrichtern und hoffentlich auch von uns selbst. Dieser Schritt von der „konventionellen“ zur „postkonventionellen“ Moral gelingt uns – wenn überhaupt – erst spät und kann durchaus als Merkmal des Erwachsenseins aufgefasst werden.

 

Anmerkungen:

Dieser Beitrag ist in einer früheren Version in der Evangelischen Kirchentageszeitung vom 1.5.2013 erschienen. Ich danke der Redaktion, dass ich die Inhalte hier im Blog verwenden darf!

Die hier skizzierten fünf moralischen Urteilsstufen beziehen sich auf die Theorie der moralischen Urteilsentwicklung des amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg (1927–1987). Eine ausführliche kritische Darstellung dieser Theorie findet sich z. B. in meinem Buch „Einführung in die Moralpsychologie“, Weinheim: Beltz, 2008.

Schreibe einen Kommentar