Wissenschaftskritik in der Corona-Krise

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Allgemein / Psychologie
Sars-CoV-2

Corona-Krise: Die anfänglich positive Stimmung gegenüber der Wissenschaft verschlechtert sich zunehmend. Virologen und Epidemiologen werden beschuldigt, sich ständig zu korrigieren, sich gegenseitig zu widersprechen und letztlich doch nichts Genaues zu wissen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich so viele Leute für wissenschaftliche Studien interessiert haben wie gegenwärtig. Angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie ist das große Interesse an einschlägigen Studien natürlich verständlich. Zwischen den Erwartungen an die Wissenschaft und deren Resultaten scheinen allerdings immer größere Diskrepanzen zu entstehen. Die Wissenschaftskritik beruht nicht zuletzt auf Missverständnissen über das Wesen wissenschaftlicher Forschung. 

Politik und Wissenschaft

Zu Beginn der Corona-Krise schien die Arbeitsteilung zwischen Politik und Wissenschaft relativ klar zu sein. Die medizinische Wissenschaft beriet die Politik über die Ausbreitung des Virus und die Möglichkeiten, die exponentielle Steigerung der Infektionen zu bremsen, also die „Kurve abzuflachen“ (flatten the curve). Dies war notwendig, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und moralisch unhaltbare Zustände wie in Italien (Triage) zu vermeiden. Die Politik folgte den Ratschlägen der Wissenschaft, die allerdings nicht immer eindeutig waren. Trotzdem konnte die durch die Medien informierte Bevölkerung die wissenschaftlichen Empfehlungen und die politischen Entscheidungen nachvollziehen – so jedenfalls der wiederum von den Medien vermittelte Eindruck.

Mittlerweile ist die Abflachung der Kurve gelungen, eine Überlastung der Intensivstationen konnte erfolgreich vermieden werden. Als Folge dieser Erfolge diskutiert nun die gesamte Republik über Lockerungen der Corona-Einschränkungen. Die anfängliche Einigkeit scheint verloren gegangen zu sein. Die Politik streitet sich über die Zweckmäßigkeit bzw. Angemessenheit der nächsten Lockerungen, auch die Medien und die Bevölkerung scheinen sich in zwei Lager zu spalten. Das eine befürwortet weiterhin die Einschränkungen, das andere hält Lockerungen für längst überfällig. Entscheidungen werden zunehmend in den Bundesländern getroffen, die zentrale Koordinierung durch den Bund schwindet exponentiell.

Wissenschaftskritik

Und die Wissenschaft? Die anfängliche Bewunderung scheint sich bei vielen in Skepsis zu verwandeln. Politiker, die sich wochenlang mit einem Hausvirologen schmückten, ärgern sich öffentlich über die „täglich wechselnden Zahlen“. Andere kritisieren das Robert-Koch-Institut: Dessen Zahlen vermittelten „eher den Eindruck, politisch motivierte Zahlen zu sein als wissenschaftlich fundiert”, so Bundestagsvizepräsident W. Kubicki am 28.4.2020  (RND v. 28.4.2020).

In den sozialen Netzwerken trübt sich die anfänglich positive Stimmung gegenüber den Virologen und Epidemiologen zunehmend ein. Sie werden beschuldigt, andauernd neue Maßzahlen zu präsentieren, sich zu widersprechen und Vieles gar nicht zu wissen. Verschwörungstheorien machen sich breit, nach denen bestimmte Politiker und Wissenschaftler das gesamte Land absichtlich lahmlegen würden.

Zwei Beispiele

Zwei Tweets des Virologen Christian Drosten auf Twitter sorgten für große Aufregung. Am 29.4. veröffentlichte Drosten einen Preprint einer eigenen Studie, die auf eine vergleichbar große Viruslast bei infizierten Kindern und Erwachsenen hinwies. Am folgenden Tag folgte der Verweis auf eine chinesischer Studie, nach der die tatsächliche Ansteckungsgefahr bei Kindern bis 14 Jahre deutlich geringer sei als bei Erwachsenen.

Zwei sichtlich verärgerte Antworten auf Christian Drosten, allerdings nicht von Fachkollegen, die eigentlich angesprochen werden sollten:

Wissenschaftskritik auf Twitter
Wissenschaftskritik auf Twitter

Wer sich für weitere Reaktionen auf diese beiden Tweets interessiert, mag sie auf Twitter nachlesen. Zum jeweiligen Hintergrund der beiden Studien hat sich Drosten in seinem Podcast am 30.4.2020 ausführlich geäußert.

In der Talkshow „Lanz“ vom 30.4.2020 erklärte der Unternehmer Peter Schwenkow, dass sich seine Frau aufgrund einer epidemiologischen Studie entschieden habe, auf ihre beiden Enkel aufzupassen. Nun sei eine weitere Studie erschienen, die die Ansteckungsgefahr von Kindern weitaus höher einschätze und nun wisse weder er noch seine Frau, was sie machen sollten. 

Die anwesende Virologin Melanie Brinkmann schien verblüfft und fragte ihn, ob seine Familie ihr Verhalten wirklich an den Ergebnissen einzelner Studien ausrichten würde.

Alltagserfahrung vs. wissenschaftliche Erfahrung

Diese beiden Beispiele illustrieren die unterschiedlichen Sichtweisen und Erwartungen von Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern. 

Unsere Alltagserfahrung lehrt uns, dass Personen, die häufig ihre Meinung wechseln, wenig vertrauenswürdig sind. Was sollen wir glauben, wenn jemand heute dies und morgen jenes behauptet?

In der Wissenschaft sind unterschiedliche Ergebnisse von Studien nicht ungewöhnlich, sondern alltäglich. Besonders wenn sich Fragestellungen und/oder Methoden unterscheiden, sind Unterschiede in den Ergebnissen zu erwarten. Erst aufgrund einer Vielzahl von Studien zu einem bestimmten Untersuchungsbereich können einigermaßen sichere Schlussfolgerungen gezogen werden. „Einigermaßen sicher“ bedeutet gleichzeitig, dass eine letzte Sicherheit in der empirischen Wissenschaft nie zu erreichen ist. Es ist eine wissenschaftstheoretische Binsenweisheit, dass wir uns wissenschaftlich der Wahrheit immer nur annähern können, sie aber nie gänzlich erreichen werden (Kritischer Rationalismus). 

Methodisch versucht man in den empirischen Wissenschaften Hypothesen also immer zu widerlegen, da man sie aus logischen Gründen nicht beweisen kann. Je häufiger diese Widerlegung missglückt, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Hypothese zutrifft. Letztlich schließt aber auch eine derartige „Bewährung“ nicht aus, dass sich irgendwann in der Zukunft unsere Annahmen als falsch erweisen könnten.

Wissenschaft ist also nicht unfehlbar. Ganz im Gegenteil: Fehlbarkeit ist ein immanentes Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens. Unfehlbarkeit mag ein Merkmal von Glaubenssätzen sein, die sich durch ihre Unwiderlegbarkeit auszeichnen. Annahmen, die wir nicht widerlegen können, müssen deswegen nicht falsch sein. „Gott hat die Welt erschaffen“, ist eine Annahme, die wir nicht widerlegen können. Sie mag richtig oder falsch sein, auf keinen Fall handelt es sich um eine wissenschaftliche Aussage.

Welche Schlussfolgerungen können wir nun ziehen?

Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse immer fehlerbehaftet sein können, warum sollten wir ihnen vertrauen? Vor allem, wenn es um Leben und Tod geht? Oder unsere wirtschaftliche Existenz?

So gestellt macht diese Frage leider wenig Sinn. Es gehört ja gerade zu den Errungenschaften der modernen Wissenschaften, dass sie ihre „Unsicherheiten“ offenlegen. Statistische Verfahren, die in den wissenschaftlichen Ergebnisdarstellungen wissenschaftlicher Studien meist einen breiten Raum einnehmen, sollen jeweils eine Einschätzung ermöglichen, wie groß die Sicherheit bzw. Unsicherheit der gewonnenen Erkenntnisse ist. Hier – und nicht in den Zusammenfassungen (Abstracts) – können andere Wissenschaftler erkennen, wie vertrauenswürdig die Ergebnisse sind.

Natürlich sagen nicht nur die statistischen Kennwerte etwas über die Seriosität und Bedeutsamkeit von Studienergebnissen aus. Nur wenn eine Studie insgesamt sinnvoll angelegt ist und den Kriterien ihres Faches entspricht, ergeben die Ergebnisse überhaupt erst einen Sinn.

Daher ist es auch fast unmöglich, dass Wissenschaftler die Qualität einer komplexen Studie eines anderen Faches einschätzen können. Aus diesem Grund werden Studien vor ihrer Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften auch von fachlich kompetenten anderen Wissenschaftlern begutachtet.

Ich will und kann also die Qualität und Aussagekraft einzelner virologischer und epidemiologischer Studien nicht beurteilen. Dies ist der einschlägigen Scientific Community vorbehalten.

Empfehlungen

Die erste Empfehlung bezieht sich auf die Kommunikation der sogenannten „Heinsberg-Studie“, die ja schon hinsichtlich der Vorveröffentlichung von Zwischenergebnissen in die Kritik geraten ist.

Am 4.5.2020 sagte Hendrik Streeck im Heute-Journal zum Abschluss der Präsentation der Ergebnisse der Heinsberg-Studie auf die Frage von Klaus Kleber, ob er denn nun weitere Lockerungen befürworten könne oder nicht:

„Ich bin Virologe und Infektionsepidemiologe, ich kann keine Empfehlungen abgeben, keine Empfehlungen an die Politik geben. Das ist wirklich eine Aufgabe der Politik und der Gesellschaft, diese Daten, diese Studie zu beurteilen, sie mit einzubeziehen in die Entscheidungen. Aber ich werde mich hüten, da eine Aussage zu treffen – oder eine Empfehlung darauf basierend aussprechen.“ (Heute Journal vom 4.5.2020).

ZDF Heute Journal vom 4.5.2020

So nachvollziehbar diese Reaktion nach den bisherigen Versuchen einer politische Einvernahme gerade seiner Person in NRW auch sein mag, der Wissenschaft und insbesondere seiner Disziplin tut Streeck hier keinen Gefallen. 

Wenn seine Daten weder für noch gegen schnelle weitere Lockerungen sprechen, dann sollte er dies entweder offen sagen – oder auf einen Auftritt in einer zentralen politischen Nachrichtensendung verzichten. Es ist natürlich nicht die Aufgabe der Politik und der Gesellschaft, die von ihm erhobenen Daten zu beurteilen und zu interpretieren. Dies ist zunächst eine genuin wissenschaftliche Aufgabe. Die Ergebnisse einer Studie müssen dann so aufbereitet und präsentiert werden, dass die Politik überhaupt eine Chance bekommt, sie in ihre Entscheidungen einzubeziehen. 

Tatsächlich ist es nicht die Aufgabe eines Virologen, politische Entscheidungen zu treffen. Aber dies ist ja eine Binsenweisheit. 

Föderalismus als wissenschaftliche Chance

Abschließend noch ein konkreter Vorschlag in Hinblick auf die weiteren Lockerungen! Da das Ende gemeinsamer Schritte der Bundesländer mittlerweile offensichtlich ist, sollte man die jetzigen „Alleingänge“ wissenschaftlich nutzen. Es gibt viele offene Fragen: So wissen wir nicht, wie und in welcher Reihenfolge wir Kitas, Grundschulen und weiterführende Schulen am sinnvollsten öffnen, welche Hygienemaßnahmen sinnvoll und welche überflüssig sind. Diese Fragen können in verschiedenen Szenarien in unterschiedlichen Bundesländern in wissenschaftlich sinnvoll abgestimmter Weise empirisch geprüft werden. Dies gilt nicht nur für Kitas und Schulen, sondern auch für Gaststätten, Hotels, Konzertsäle und alle anderen bislang geschlossenen oder eingeschränkten Bereiche.

Virologen und Epidemiologen müssten hierzu sinnvolle Untersuchungspläne erarbeiten, die dann von den Bundesländern umgesetzt werden könnten. 

Natürlich würde dies nicht zu bundeseinheitlichen Vorgehensweisen führen, aber die Unterschiede wären nicht willkürlich, sondern geplant. Sie würden uns allen wichtige Erkenntnisse für weitere Entscheidungen liefern. 

Bildnachweis: Bildblog v. 5.5.2020 auf Twitter
https://twitter.com/BILDblog/status/1257726482291527682 

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